Wir erinnern

Im Fokus: Die Gedenkstätte des KZ-Außenlagers Witten-Annen




Geschichtsorte einblenden - Alexander Steigs künstlerisches Seminar zur Gedenkstätte des Außenlagers Witten-Annen

Wie viele, die in Witten leben, arbeiten und studieren, wissen eigentlich, dass es hier ab 1940 ein Zwangsarbeiterlager und einige Jahre später auch ein Außenlager des KZ Buchenwald gab? Mir war das nicht bewusst, und ich erfuhr erst davon, als wir im WittenLab den Lehrauftrag an den Künstler Alexander Steig vergeben hatten. Engagiert hatten wir ihn wegen seiner Videokunstprojekte, in denen er Medienbilder unterschiedlicher Herkunft unserem Einschätzungsvermögen aussetzt und die Schichtungen ihrer suggestiven Lesarten in seinen Inszenierungen herauspräpariert.

Alexander Steig setzt sich aber auch dafür ein, dass sich Stadtgesellschaften auf ‚ausgeblendete‘ Gedächtnisorte angemessen zurückbesinnen. So gedachte er 2017 mit seiner Erinnerungsskulptur KAMERA des vergessenen Lagers von über 500 Zwangsarbeiter*innen, die von 1944 bis 1945 für das Münchner Agfa-Werk gearbeitet hatten. 2021 hat er mit der Postkarten-Aktion Un-Ruhe an das Außenlager Lieberose des KZ Sachsenhausen erinnert. Die Gedenkstätte des Außenlagers Witten-Annen weckte sofort sein Interesse und war Ausgangspunkt für die künstlerische Recherche, die er zusammen mit den Studierenden in einem Seminar des Studium fundamentale begann. Künstlerisches Handeln leistet so einen eigenständigen Beitrag zur Erinnerungskultur, die an die Auseinandersetzung eines jeden Einzelnen mit den Gräueltaten der NS-Diktatur appelliert.

Univ.-Prof. Dr. Renate Buschmann
WittenLab. Zukunftslabor Studium fundamentale
Lehrstuhl Digitale Künste und Kulturvermittlung

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Mediale Erinnerungsskulptur – Warum wir für die Zukunft im Heute das Gestern erinnern

Erinnern lenkt zukünftiges Handeln
Es gibt vielfältige Möglichkeiten, an die Ereignisse der Vergangenheit zu denken. Sie reichen von der historischen Forschung und Analyse der vorhandenen Fakten und ihrer Veröffentlichung über Gedenktage, Feiertage, Gedenkmünzen und Straßennamen bis hin zu künstlerisch- kuratorischen Projekten. Besonders Archive und Gedenkstätten leisten durch die Bewahrung, Aufbereitung und Veröffentlichung von Geschichte – wissenschaftlich gesehen – den wichtigsten Beitrag, weil solche Forschungsarbeit das Fundament bildet, auf das sich andere Disziplinen stützen können.

Erinnerungsarbeit geschieht vor dem Hintergrund gesellschaftlicher „Reifeprozesse“ und den damit einhergehenden Tendenzen. Die Ergebnisse der jeweiligen Forschung wirken dabei in die Gesellschaft zurück, entwickeln einen interdependenten Vorgang. Erinnerungsarbeit ist nicht selbstverständlich und bedarf eines gesamtgesellschaftlichen Engagements: von Bürgerinitiativen, Vereinen, politischen Instanzen und deren Entscheidungsträger*innen. Erinnern bedeutet nicht allein den mahnenden Rückblick oder die Bitte um Verzeihung und die damit verbundene Anerkennung von „Schuld“. Erinnern lenkt vielmehr zukünftiges Handeln, verstetigt pluralistische Prozesse innerhalb einer offenen Gemeinschaft und kann bzw. soll vor einem revisionistischen Geschichtsbild schützen.

Untersuchungen zur Gedenkstätte des KZ-Außenlagers Witten-Annen
Mit dem Seminar "Formen der Erinnerung – Warum wir für die Zukunft im Heute das Gestern erinnern" (Sommersemerster 2021) legten wir den Schwerpunkt auf künstlerische Arbeitsweisen und untersuchten verschiedene Möglichkeiten erinnerungskultureller Ausformulierungen. Die Teilnehmer*innen gingen zur Gedenkstätte des KZ-Außenlagers Witten-Annen, das unter dem Kommando des KZ Buchenwald stand, beobachteten und recherchierten dazu. Es fiel auf, dass die Gedenkstätte gesucht werden muss, weil die Beschilderung ungenügend ist. Ebenso schwierig ist die Gedenktafel für die Toten des Außenlagers auf dem nahen Kommunalfriedhof Annen zu finden, weil Wegweiser weder auf der Gedenkstätte noch vor Ort aufgestellt sind. Es "fehlt" auch ein Hinweis am Ort der Zwangsarbeit selbst, an dem die über 700 Insassen des Lagers im damaligen Werk der Ruhrstahl AG Annen verpflichtet waren. Kein Wort dazu auf der Website des heutigen Standortvermarkters "Wittener Industrie und Technologie Gewerbepark GmbH & Co. KG".

In fotografischen „Skizzen“ näherten sich die Studierenden allen drei Orten an: Sie führten eine erste Bestandsaufnahme durch, sammelten medial Eindrücke und fragten dabei nach möglichen Formen, wie eine „zeitgemäße“ und „mitbürgerliche“ Erweiterung oder Ergänzung aussehen könnte. Den Fokus legten sie dabei auf das ehemalige Lager selbst, das von der Westfeldstraße, aber auch über die Arndtstraße (Namensgeber ist der deutsch-nationalistische Schriftsteller und Historiker Ernst Moritz Arndt) erreicht werden kann.



„Kein Vogelschiss in der Geschichte!“ Eine Postkarte als Appell
Schließlich entstand die Idee einer Postkarte – die auch als Aufkleber genutzt werden kann, um den scheinbar vergessenen Ort und seine Geschichte erneut in die Öffentlichkeit zu transportieren und in das Stadtgedächtnis Wittens und darüber hinaus vertieft einzuschreiben. Tatsächlich finden sich auf der städtischen Website zunächst keine Hinweise; doch das verlinkte Stadtarchiv zeigt eine dezidierte Auseinandersetzung und bietet umfängliche Informationen an.

Die Studierenden wählten für die Postkarte eines ihrer Fotos aus und überschrieben es mit: „Kein Vogelschiss in der Geschichte!“. Das Bild zeigt die Ansicht der Gedenkstätte, auf dem sich Reste eines Barackenfundaments und das Fragment eines Sprengschutzbunkers andeuten; dahinter befindet sich der Gedenkstein mit Informationstafel, dessen QR-Code auf der städtischen Webseite übrigens ins Leere läuft. Das Motiv rückt vor allem den Vogelkot in den Vordergrund. Es ist keine zufällige Kameraperspektive, sondern eine Fokussierung, die absichtlich die skandalöse Bemerkung des ehemaligen Bundesprechers einer rechtsnationalen und vom Verfassungsschutz in Teilen zum "Verdachtsfall" erklärten Partei aufgreift, die eben jener Sprecher 2018 beim Bundeskongress seiner Nachwuchsorganisation im thüringischen Seebach äußerte.

Wir stehen für die Überzeugung, dass die NS-Diktatur und ihre Auswirkungen eben KEIN Vogelschiss in der Geschichte sind.

Mahnung zur Verantwortung
Ausdrücklich muss angemerkt werden, dass sich anfangs eine 10. Klasse des Albert-Möller-Gymnasiums um die Aufarbeitung der Lagergeschichte verdient gemacht hat. Anfang der 1980er-Jahre stießen die Schüler*innen bei ihrem Besuch der Gedenkstätte des KZ Dachau auf den Hinweis, dass das KZ Buchenwald in Witten ein Außenlager führte. Der Impuls einer Aufarbeitung der Lagergeschichte kam somit nicht aus der Mitte der Gesellschaft. Erst auf Initiative der Schüler*innen wurde der Ort von der Stadt Witten erworben und als Bodendenkmal fixiert zum Gedenkort. Auf dem Gedenkstein findet sich ein Text, der sich am "Textwunsch" der Schüler*innen orientiert und mittlerweile Spuren von Vandalismus zeigt. Der Schlusssatz der Schüler*innen wurde allerdings nicht aufgenommen:

AUF DIESEM GELÄNDE BEFAND SICH VOM SEPTEMBER 1944 BIS APRIL 1945 EIN AUSSENKOMMANDO DES KONZENTRATIONSLAGERS BUCHENWALD. AN DIE HIER INHAFTIERTEN MENSCHEN UND DIE AN IHNEN BEGANGENEN VERBRECHEN SOLL DIESE GEDENKSTÄTTE ERINNERN.
SIE IST MAHNUNG AN DIE VERANTWORTUNG ALLER, ZU VERHINDERN, DASS SICH DERARTIGE GESCHEHNISSE WIEDERHOLEN KÖNNEN.

Alexander Steig

 

Ein Projekt des WittenLab. Zukunftslabor Studium fundamentale, Universität Witten-Herdecke



Grafik: Erdem, Hellmann, Menke, Steig
Foto Karte: C. Menke; Fotos: Erdem, Hellmann, Menke, Steig
Koordination/Projektleitung: Alexander Steig

Recherchegrundlagen: Stadtarchiv Witten; hier besonders: Klein, Ralph: Das KZ-Außenlager in Witten Annen. Geschichte, städtebauliche Nutzung und gesellschaftspolitischer Umgang seit 1945. LIT VERLAG, Berlin 2015. [171 S.] ISBN: 978-3-643-13109-6

 

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